Die Nisko Transporte aus Wien
Winfried Garscha
Die sogenannte Nisko-Aktion war ein maßgeblich von Adolf Eichmann konzipiertes Experiment, das von den Zentralstellen für jüdische Auswanderung, die 1938 in Wien und 1939 in Prag eingerichtet worden waren, durchgeführt wurde. Es war der erste Versuch der Zwangsumsiedlung von Juden in ein Territorium außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches.
Möglich geworden war die Deportation von Juden auf nicht-deutsches Gebiet durch den Überfall auf Polen im September 1939. Das Ansiedlungsgebiet sollte am Fluss San, nahe der neuen Demarkationslinie zur Sowjetunion, liegen. Betroffen waren Juden aus dem annektierten Österreich (der „Ostmark“), aus dem „Protektorat Böhmen und Mähren“ und aus dem an das Deutsche Reich angeschlossenen polnischen Ost-Oberschlesien.
Die jüdischen Gemeinden in Wien und Ostrava (Mährisch Ostrau) hatten Männer, vorzugsweise mit handwerklichen Kenntnissen, bereitzustellen, die ein Durchgangslager für ein künftiges „Judenreservat“ im Südosten des Distrikts Lublin errichten sollten. Die Deportierten mussten Werkzeug zur Holzverarbeitung mitnehmen, außerdem warme Kleidung, Arbeitskleider, Spirituskocher und Verpflegung für drei bis vier Wochen. Das persönliche Reisegepäck durfte 50 Kilogramm nicht überschreiten. Eichmann hatte ab der zweiten Oktoberhälfte 1939 wöchentliche Transporte mit je 1.000 Personen nach Nisko am San geplant, tatsächlich wurden aus Wien jedoch nur am 20. und 26./27. Oktober 1939 in zwei Deportationszügen mehr als 1.500 jüdische Männer dorthin verschickt. Ein dritter Transport, für den bereits ein Sammellager in der Gänsbachergasse eingerichtet worden war, kam wegen des Abbruchs der Aktion nicht mehr zustande. Weitere Deportationen nach Nisko erfolgten, ebenfalls in der zweiten Oktoberhälfte 1939, aus Ostrava und Katowice (Kattowitz).
Die Kultusgemeinden hatten für jeden Zug eine Transportleitung und für jeden Waggon einen Verantwortlichen zu nominieren. Sie mussten ferner dafür sorgen, dass bei jedem Transport zehn Ärzte mit ihren Instrumenten und Medikamenten mitfuhren. Der Wiener Kultusgemeinde gegenüber erweckten Eichmann und seine Mitarbeiter den Eindruck, im Ansiedlungsgebiet im besetzten Polen gebe es leere, ehemals jüdische Dörfer und die Handwerker des ersten Transports würden nach der Errichtung des Barackenlagers auf diese Dörfer aufgeteilt werden, um mitzuhelfen, weitere Unterkunftsmöglichkeiten zu schaffen. Eichmann versprach, die „Umgesiedelten“ könnten sich eine neue Existenz aufbauen. Für ihre vorläufige Unterbringung und Verpflegung werde gesorgt werden.
Sammelpunkt der Wiener Transporte war der Aspangbahnhof, wo Personenwaggons sowie Güterwaggons für das große Gepäck bereitstanden. Die Züge fuhren über Ostrava nach Nisko. In Ostrava wurden weitere Güterwaggons mit Bauholz, Lebensmitteln und Ausrüstungsgegenständen für die Wachmannschaft an den Zug angekoppelt.
Nur wenige Hundert der insgesamt 4.750 bis 4.900 Deportierten kamen jedoch in dem beim Dorf Zarzecze am östlichen San-Ufer errichteten Lager unter. Als Leiter der jüdischen Selbstverwaltung setzte die SS den aus Ostrava stammenden Emil Eisler ein, der von den Deportierten ehrfurchtsvoll „Professor“ genannt wurde; im Februar 1940 gestattete ihm die SS die Ausreise nach Schweden. Im Nachbardorf Pysznica erlaubte die SS die Errichtung einer Spitals- und „Labestation“ für über 200 Vertriebene, die vom Wiener Ernst Kohn (Kolm) geleitet wurde. Dort fanden einige Wiener Juden Aufnahme. Eine weitere Außenstelle für 40 Deportierte durfte einige Kilometer flussaufwärts, im Ort Ulanów, eingerichtet werden. Die große Mehrheit wurde jedoch nach Osten verjagt, was die SS zynisch „Streuen“ nannte.
Die Deportierten irrten wochenlang im Gebiet zwischen den Flüssen San und Bug umher, einige Gruppen waren über Janów Lubelski nach Lublin unterwegs und versuchten, sich quer durch das Lubliner Gebiet bis nach Bełżec, nahe der Demarkationslinie zur Sowjetunion, durchzuschlagen. Einige fanden Aufnahme bei der jüdischen Bevölkerung in den Kleinstädten des Distrikts. Die meisten versuchten aber, sich in den sowjetisch besetzten Teil Ostpolens in Sicherheit zu bringen, bzw. wurden von der SS über die Grenze getrieben. Dies traf auf rund 1.300 der aus Wien Deportierten zu. Die Nisko-Deportierten reihten sich in die nach Hunderttausenden zählenden Flüchtlinge ein, die zwischen September 1939 und der Schließung der Grenze durch die sowjetischen Behörden Ende 1939 dem deutschen Besatzungsregime in Polen zu entkommen versuchten.
Die Mehrheit derer, denen der Grenzübertritt gelungen war, fand im nunmehr sowjetischen Lwiw (Lemberg) Zuflucht. Von dort aus konnten sie Telegramme nach Wien schicken.
Andere schrieben aus verschiedenen Orten im Distrikt Lublin verzweifelte Briefe nach Wien. Diese Briefe sind erschütternde Zeugnisse der Lage der frierenden und hungernden Deportierten, die gleich am Beginn ihrer Flucht aus Zarzecze ihr Gepäck zurücklassen mussten, weil sie zu Fuß unterwegs waren, oder von polnischen und ukrainischen Banden ausgeraubt wurden. Die Briefe, von denen einige hier wiedergegeben werden, dokumentieren darüber hinaus aber auch das tiefe Unverständnis der Betroffenen über die vermeintliche Untätigkeit der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde (IKG). Diese hatte weit weniger Möglichkeiten, Unterstützung für die nach Polen Deportierten zu organisieren, als die Kultusgemeinde von Ostrava, da der Bewegungsspielraum der jüdischen Bevölkerung im „Protektorat“ damals noch nicht so rigoros eingeschränkt war wie im annektierten Österreich. Die aus Ostrava Deportierten teilten mit denen aus Wien Lebensmittel, Bekleidung und Geld, das sie von zu Hause empfangen hatten.
In Laufe des Jahres 1940 versandte die Wiener IKG Fragebögen, die Angehörige dazu nutzen konnten, für die Eruierung des Aufenthaltsorts von Nisko-Deportierten, die in die UdSSR geflüchtet oder vertrieben worden waren, zweckdienliche Angaben zu machen. In einer Rubrik des Fragebogens war der Zweck der Anfrage einzutragen. In den meisten Fällen wollten die Angehörigen nur den momentanen Aufenthaltsort wissen, um wieder Kontakt aufnehmen zu können. In manchen Fällen wurde als Zweck der Aufenthaltsermittlung aber auch die Zustellung einer allfälligen Einreisebewilligung angegeben (es waren auch Männer deportiert worden, die ihre Ausreise in ein Exilland bereits vorbereitet hatten). Es ist nicht bekannt, ob es gelang, einem solchen Deportierten tatsächlich die benötigten Papiere zu übermitteln. Offenbar musste die Aktion im Herbst 1940 eingestellt werden – zumindest sind nach dem Oktober 1940 keine Fragebögen überliefert.
Im April 1940 durften etwas mehr als 500 Männer nach Hause zurückkehren, darunter 198 nach Wien. Viele von ihnen wurden später in den nationalsozialistischen Vernichtungsstätten ermordet.
Das Schicksal jener, die nicht beim Rücktransport nach Wien im April 1940 dabei waren, konnte nur teilweise rekonstruiert werden: Rund 80 von ihnen konnten dank der Bemühungen des „Wanderungsreferats“ der IKG in den ersten Nachkriegsjahren nach Wien zurückkehren.
Bei den meisten der übrigen mehr als 1.000 Männer ist ungewiss, ob sie im nationalsozialistischen Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete Unterernährung und Krankheiten zum Opfer fielen, ob sie von den Nationalsozialisten nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion in Lwiw oder einem anderen Zufluchtsort in den besetzten Gebieten der Sowjetunion ermordet wurden, ob sie als Häftlinge oder Zivilinternierte in einem sowjetischen Lager umkamen – oder ob sie überlebten und nach 1945 in der UdSSR blieben.
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