Sammellager Gänsbachergasse
Dieter Hecht
Im Jahr 1866 hat die Gemeinde Wien das Areal gekauft und ein Obdachlosenheim mit angeschlossenen Werkstätten errichtet. Ab 1925 wurde im Rahmen eines Um- und Ausbaus des Hauses unter dem Wiener Stadtrat Julius Tandler die Arbeit in den Werkstätten eingestellt. Das Haus 10., Gänsbachergasse 3 (heute: 3., Gänsbachergasse 3) verfügte mit dem Heim in der Arsenalstraße 9 über insgesamt 1.980 Betten.[1] Auch unter dem austro-faschistischen Regime diente das Haus als Obdachlosenheim der Stadt Wien. Der „Anschluss“ ändert zunächst nichts an der Nutzung des Hauses. Erst von Oktober 1939 bis Februar 1940 diente das Obdachlosenheim, das nahe dem Aspangbahnhof lag, als Sammellager für Deportationen in das geplante „Judenreservat“ Nisko am San (im Generalgouvernement).[2] Am 20. und 26. Oktober 1939 gingen zwei Transporte mit ca. 1.600 Männern vom Aspangbahnhof nach Nisko ab. Einige Tage zuvor hatten die NS-Behörden bereits etwa 900 Männer aus Ostrava nach Nisko deportiert, die ein Barackenlager im nahe gelegenen Zarzecze errichten sollten.[3]
Adolf Eichmann und Alois Brunner versuchten lange, weitere Deportationen aus Wien nach Nisko durchzuführen. Zunächst verschoben sie den dritten Transport lediglich um eine Woche. Die jüdischen Transport- und Waggonleiter sollten sich am 30. Oktober am Aspangbahnhof mit Gepäck einfinden. Am 1. November verlautbarte die IKG in einem Schreiben, dass der Transport am Samstag, dem 4. November abgehen würde. Bereits einen Tag zuvor hatten sich alle eingeteilten 750 Personen – diesmal viele Frauen und Kinder – mit Gepäck im ehemaligen Obdachlosenheim einzufinden. Da Eichmann und Brunner keine Genehmigung für den Transport erhielten, blieben die meisten bis Februar 1940 im Obdachlosenheim inhaftiert.[4]
Die für den dritten Transport Vorgesehenen wurden getrennt nach Geschlechtern in zehn Zimmern untergebracht. Die Kinder blieben bei den Frauen. Harry Merl erinnerte sich, dass er mit seiner Mutter Sabine getrennt von seinem Vater Wilhelm untergebracht worden war. Sabine Merl arbeitete in der Gänsbachergasse als Sekretärin, Wilhelm Merl als Schlosser.[5] Zwei Briefe vom 12. November 1939 an Josef Löwenherz dokumentieren das Schicksal der inhaftierten Frauen besonders eindrücklich: Rosa Breitenfeld schildert in ihrem Brief ihre verzweifelte Lage und den Wunsch vieler Frauen, endlich zu ihren nach Nisko deportierten Männern gelangen zu können. Laut Breitenfelds Bericht waren im Saal Nr. 2 19 Frauen interniert, darunter drei Frauen mit Kindern. In einem privaten Nachsatz bat sie Löwenherz, nach Abgang des Transports seiner Tochter Ada, die damals schon in den USA lebte, zu berichten, dass sie zu ihrem Mann gefahren sei, damit Ada dies Breitenfelds Schwägerin mitteilen könne. Am selben Tag schrieben die zehn Zimmerkommandanten und -kommandantinnen einen 4-seitigen Brief an Josef Löwenherz, in dem sie die Situation in der Gänsbachergasse ausführlich beschrieben. Unter den Unterzeichneten waren sieben Frauen, d.h., die Mehrheit der Zimmer bzw. Säle war von Frauen belegt, was auf mehrheitlich Frauen als Internierte hinweist. Insgesamt dürften sich zu diesem Zeitpunkt 815 Personen, darunter 47 Kinder in der Gänsbachergasse aufgehalten haben. Die Schilderung der ZimmerkommandantInnen zeigt abermals, wie verzweifelt sich die Situation für die Jüdinnen und Juden in der Gänsbachergasse darstellte. Die Unsicherheit, ob und wohin sie transportiert würden, und die mangelnde Perspektive ließen sie verzweifeln. Im Gegensatz zum Brief von Rosa Breitenfeld wurde in diesem auf „erschreckende Mitteilungen“ von Männern aus dem ersten und zweiten Transport hingewiesen, weshalb viele Frauen, die sich freiwillig gemeldet hatten, nicht mehr nach Polen fahren wollten.[6]
Dank dieses Briefes wird klar, dass für die Überwachung und Versorgung sowohl Personal der Israelitischen Kultusgemeinde als auch weiterhin das Personal des Obdachlosenheims herangezogen wurde. Die Sympathie der Inhaftierten lag eindeutig beim „arischen“ Personal. An den ca. 20 jüdischen Ordern wurde kritisiert, dass sie keine Rücksicht auf die Internierten nähmen und kein Verständnis für die Situation hätten. Im Brief wurden die Ordner heftig kritisiert, vor allem, weil sie sich beim Essen reichlich bedienten. Die Internierten der Gänsbachergasse verstanden nicht, dass die Kultusgemeinde durch die „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ gezwungen wurde, Angestellte für die Regelung des Lageralltags abzustellen. Vielmehr forderten sie, das Geld statt für die Ordner in die Ausstattung der Frauen mit Kleidern, Unterwäsche und Schuhen zu investieren. Noch schwerwiegendere Kritik übten sie an der Auswahl der Personen für den Transport, viele hatten körperliche Gebrechen und waren nicht fähig, schwere körperliche Arbeit zu leisten.[7]
Nachdem die Internierten im Januar und Februar 1940 frei gelassen worden waren, diente die Gänsbachergasse wieder als Obdachlosenheim. Im Oktober 1942 wurde das Obdachlosenheim für die Gestapo geräumt. Ende Oktober verwendete die Gestapo die Gänsbachergasse als Sammellager für Jüdinnen und Juden aus ganz Europa, die gegen sogenannte Templer, Angehörige einer evangelisch-pietistischen deutschen Sekte, die im 19. Jahrhundert nach Palästina ausgewandert waren, ausgetauscht werden sollten. Hierbei handelte es sich um den zweiten deutsch-palästinensischen Zivilgefangenenaustausch.[8] Die Verhandlungen zwischen den britischen und deutschen Behörden zogen sich in die Länge. Neben britischen Staatsangehörigen sollten 125 Jüdinnen und Juden ausgetauscht werden. Als „Sammelort“ innerhalb des Deutschen Reichs wurde Wien ausgewählt. Die Juden wurden in der Gänsbachergasse im ersten Stock in einem großen Luftschutzraum und in drei weiteren Sälen untergebracht. Bereits am Weg nach Wien durften sie ohne „Judenstern“ reisen. Auch in Wien konnte sie sich ohne „Judenstern“ in der Stadt bewegen. Die Angestellten der Stadt Wien sollten im Auftrag der Gestapo Anwesenheitskontrollen durchführen, lehnten dies aber aus Personalmangel ab. Da es drei Mahlzeiten am Tag gab, kamen die Jüdinnen und Juden immer zu den Mahlzeiten in die Gänsbachergasse. Der Transport nach Palästina sollte am 29. Oktober 1942 abgehen. Am 8. November um 21:50 fuhren letztendlich 137 Personen vom Wiener Südbahnhof Richtung Istanbul, darunter 70 Jüdinnen und Juden und britische Staatsbürger. Deutlich weniger als vereinbart, weil 55 der ursprünglich ausgewählten Jüdinnen und Juden bereits ermordet worden waren, darunter Chawa Simche aus Wien, die mit ihren Geschwistern bereits am 12. Mai 1942 nach Izbica deportiert und dort ermordet worden war. Die Namen der Ermordeten wurden von der Liste gestrichen, darunter etwa Hannah Korman aus Radom, die Mutter des 15-jährigen Israel Sumer Korman, der allein fahren konnte. Zu den Passagieren zählte auch die Berliner Religionslehrerin Blanka Alperowitz-Katz (1883-1958). Drei Krankenschwestern, zwei Polizisten und drei zivile Beamte begleiteten den Zug. Für die Jüdinnen und Juden gab es auch Schlafwagen und Verpflegung im Zugrestaurant. Korman und Alperowitz-Katz berichteten in ihren Erinnerungen über ihre Reise über Wien nach Palästina.[9]
Im Sommer 1944 wurde das Obdachlosenheim in der Gänsbachergasse als Durchgangslager für einen Teil der rund 6.000 ungarisch-jüdischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter verwendet, die über Strasshof nach Wien gebracht worden waren. Von der Gänsbachergasse 3 wurden die Arbeitskräfte an die Arbeitgeber verteilt. Die abermalige Nutzung des Obdachlosenheims hatte sicherlich damit zu tun, dass die Gänsbachergasse nahe dem Ostbahnhof und vielen Gewerbe- und Industriebetrieben in Simmering (11. Bezirk) und Favoriten (10. Bezirk) lag. Den Berichten von Betroffenen zufolge war die Situation in der Gänsbachergasse viel besser als in Strasshof, sowohl was die Verpflegung als auch den freundlichere Umgangston der Angestellten betraf.[10] In der Nachkriegszeit verwendete die Stadt Wien das Haus wieder als Obdachlosen- und Asylheim.
[1] Karl Sablik, Julius Tandler: Mediziner, Sozialreformer, Frankfurt am Main ²2010, S. 247-248; Mitteilungen aus Statistik und Verwaltung der Stadt Wien. Geschäftsgruppe Stadtplanung, Wien 1926, S. 73.
[2] Jonny Moser, Nisko. Die ersten Judendeportationen, Wien 2012.
[3] Hans Safrian, Die Eichmann-Männer, Wien 1993, S. 77-78. Vgl. Dieter J. Hecht/Eleonore Lappin-Eppel/Michaela Raggam-Blesch, Topographie der Shoah. Gedächtnisorte des zerstörten jüdischen Wien, Wien 2015, S. 454.
[4] Joseph Löwenherz Collection am Leo Baeck Institute, AR 25055, Aktennotizen vom 30. 10. 1939, 1. 11. 1939, 8. 11. 1939; Rundschreiben der Kultusgemeinde, 1. 11. 1939; Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Bestand Jerusalem, A/W 2737; Doron Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938-1945. Der Weg zum Judenrat, Frankfurt/Main, 2000, S. 208-209.
[5] Pascal Merl, Harry Israel Merl – Persönliche Erinnerungen eines jüdischen Kindes im
historischen Kontext der Zeit des Nationalsozialismus in Wien, Universität Linz Bachelorarbeit, Linz 2014, S. 16-17.
[6] Archiv der IKG Wien, Bestand Jerusalem, A/W 2747.
[7] Archiv der IKG Wien, Bestand Jerusalem, A/W 2747.
[8] Alexandra Wenck, Zwischen Menschenhandel und „Endlösung“. Das Konzentrationslager Bergen-Belsen, Berlin 2020, S. 11.
[9] Klaus Hillenbrand, Der Ausgetauschte. Die außergewöhnliche Rettung des Israel Sumer Korman, Frankfurt/Main 2010, Kapitel I, Kapitel VI. Vgl. Blanka Alperowitz/Klaus Hillenbrand (Hg.), Die letzten Tage des deutschen Judentums (Berlin Ende 1942), Berlin 2017, S. 101-106.
[10] Eleonore Lappin-Eppel, Ungarisch-Jüdische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen in Österreich 1944/45. Arbeitseinsatz – Todesmärsche – Folgen, Wien 2010, S. 91-92.