Sehr geehrter Herr Amtsdirektor!
Wir befinden uns seit 10 Tagen im Obdachlosen-Asyl und wollen mit vorliegendem Bericht alle unsere Beobachtungen und die sich daraus ergebenden Vorschläge und Bitten, Ihnen, sehr geehrter Herr Amtsdirektor, zur Kenntnis bringen, weil wir davon überzeugt sind, bei Ihnen das richtige Verständnis für unsere derzeitige ungewisse Lage zu finden.
Die erste Bedingung, um Menschen zufrieden zu stellen, ist das Essen. Die vom Obdachlosenheim an uns verabreichte Kost ist den heutigen Verhältnissen angemessen, als sehr gut zu bezeichnen. In den ersten Tagen hatten die Leute ausser dem hier erhaltenen Essen Zubussen in Form des Reiseproviantes, der für die Fahrt nach Polen von jedem einzelnen mitgenommen wurde. Diese Vorräte sind seit einigen Tagen in ihrer Gänze zur Neige gegangen und sind ein Grossteil der hier Bequartierten in der unangenehmen Situation, nur von der Anstaltskost zu leben. Einige Glückliche erhalten Lebensmittel in Postpacketen von ihren Angehörigen, aber dies sind besondere Ausnahmsfälle. Es gibt unter uns noch genügend Leute, die das nötige Geld besitzen, um auf Grund ihrer Lebensmittelkarten Waren (Eier, Butter, Zucker, etc. etc.) zu kaufen. Unsere gesamten Lebensmittelkarten wurden jedoch durch Organe der Kultusgemeinde abgesammelt und in deren Verwahrung genommen. Durch den Hauptsturmführer SS Günther erhielt unser Transportleiter den strengsten Auftrag, die Lebensmittelkarten am Bahnhof vor der Abfahrt einzusammeln, die Verwaltung des Obdachlosenheimes erklärte, zur Verköstigung der Insassen keine Lebensmittelkarten zu brauchen; wieso trotzdem es dazu kam, die Karten abzusammeln, ist uns nicht verständlich. Es wurde uns dadurch seit Tagen durch eine uns unerklärliche Weise der Bezug von zusätzlichen Lebensmitteln entzogen. Nicht unerwähnt wollen wir lassen, dass wir durch die von der Kultusgemeinde beigestellten Ordner ebenfalls um grössere Mengen Lebensmittel geschmälert werden. Es wird täglich für die hier polizeilich gemeldeten Polenfahrer (derzeit 815 Personen, darunter 47 Kinder) gekocht. Nach Verteilung des Essens wird der verbleibende Rest an jene verteilt, die noch Hunger haben, deren nicht wenige sind. Durch die Anwesenheit von ca. 20 Ordnern der Kultusgemeinde, die es verstehen, sich nicht die kleinsten Portionen geben zu lassen, muss so mancher der hier Internierten mit hungrigem Magen vom Tische gehen. Die ersten Tage erhielten wir täglich 30 bis 60 Portionen Brot zur Verteilung als Ueberschuss. Zu unserem Leidwesen blieben eines Tages diese Zubussen aus und konnten wir feststellen, dass das überschüssige Brot von den Ordnern bei Seite geschafft wurde. Da den bezahlten Ordnern der Kultusgemeinde im Gegensatze zu uns die Möglichkeit geboten ist auf Grund ihrer Lebensmittelkarten sich zu verköstigen, ist es gelinde ausgedrückt nicht in Ordnung, den hier befindlichen Glaubensgenossen auf eine solche Art die Kost zu schmälern.
Bezüglich der Schlafgelegenheiten berichten wir folgendes: Wir sind kasernenmässig untergebracht, trotzdem keine Gelegenheit zum Aufhängen von Kleidern vorhanden, im Gegenteil, die Betten derart eng aneinandergereiht, dass man oft nur bei jedem dreissigsten Bett einen Durchgang findet, hört man keine Klagen, da die Betten in gutem Zustande und ausserdem pro Person zwei warme Decken beigestellt wurden.
Leider haben wir bei einigen wenigen Personen Läuse festgestellt. Waschgelegenheiten sind genügend vorhanden und wird strenge darauf geachtet, dass selbe auch benützt werden. Donnerstag und Freitag stand das Bad zur Verfügung und wurde selbes von uns allen benützt. Die Beheizung aller Räume ist tadellos.
Das gesamte Personal des Asyls bringt uns bezw. unserer Lage das grösste Verständnis entgegen und werden alle unsere Wünsche soweit möglich, erfüllt. Wenn des öfteren unausbleibliche Verstösse von seiten der Heiminsassen vorkommen, hört man nie durch das Personal irgend ein scharfes Wort, im Gegenteil, jeder einzelne bemüht sich, uns unsere Lage so angenehm als nur möglich zu machen. Der umgekehrte Fall jedoch ist leider bei unseren Glaubensgenossen, den bezahlten Organen der Kultusgemeinde des öfteren zu bemerken. Selbstverständlich trägt dies nicht zur Aufrechterhaltung der Ordnung bei, sondern löst nur Unwillen bei den bereits nervenzermürbten und durch ihr Schicksal niedergedrückten Menschen aus. Wir wollen zur Illustration nur eines von vielen Beispielen ausführlich berichten: Vor dem Hauseingang stehen Mütter, Väter und Kinder von im Hause anwesenden Leidensgenossen und versuchen ihre Angehörigen zu sehen bezw. etwas Lebensmittel zu übergeben. Ein Sicherheitsorgan erklärt den Leuten in leutseliger Form, es sei ihm dienstlich verboten, Packete entgegen zu nehmen, oder Besuche zu gestatten und erklärt zum Schlusse „schauts Leutln, i mecht enk alle einilassn, aber, wenn man mir draufkommt, kost es mich meinen Posten“. Die angesammelten Menschen verlassen daraufhin die Strasse und nach 10 Minuten sind abermals ca. 30 bis 40 Menschen vor dem Tor. Ein Ordner der Kultusgemeinde öffnet das Tor und brüllt die Anwesenden auf folgende Art an: „Wenn Ihr nicht sofort verschwindet, lass ich Euch alle nach Dachau schicken“.
Für die 800 Personen, die sich derzeit unfreiwillig hier im Hause befinden, war es ein Beruhigungsmittel, dass die Ordnung im Hause durch Leute vom Polentransport aufrecht erhalten wurde, wobei noch zu bemerken ist, dass sich nicht die geringsten Anstände ergaben. Durch den ständigen Kontakt, den wir gezwungenermassen mit allen im Hause befindlichen Polenfahrer unterhalten, haben wir festgestellt, dass durch die Beistellung von hausfremden Ordnern die Leute das Gefühl haben, Sträflinge zu sein. Es ist daher nicht zu vermeiden, dass die Leute murren und des Glaubens sind, Gefangene der Kultusgemeinde zu sein. Wir wenden alle Mühe auf, um die Leute zu beruhigen, müssen aber leider feststellen, dass die Nervosität von Tag zu Tag sich steigert. Sehr viel trägt dazu auch der Umstand bei, dass es bis jetzt von Seiten der Kultusgemeinde unterlassen wurde, irgend eine prominente Persönlichkeit hieher zu entsenden, um den Leuten irgend welche Aufklärungen bezüglich des Polentransportes resp. über den Zweck und Sinn unseres Hierseins zu geben. Die Nachrichten, welche von den ersten zwei Polentransporten hieher gelangt sind, enthalten zum Teil erschreckende Mitteilungen und hat sich bei den vielen Frauen, die sich zum Transport freiwillig meldeten, um nur rasch wieder mit den Angehörigen beisammen sein zu können gegenteilig ausgewirkt.
Aber auch andere Gründe haben dazu beigetragen, die Begeisterung für Polen abzuschwächen. Durch den langen Aufenthalt im Asyl konnten wir das für den Transport bestimmte Menschenmaterial beobachten und mussten zu unserem Leidwesen entsetzliche Feststellungen machen. Was sollen wir als verantwortliche Menschen mit den in den Transport eingeteilten Halbidioten, Vollidioten und sonstigen zu jedweder Arbeit unfähigen Geschöpfen beginnen? Die Anzahl jener mit verkrüppelten Gliedmassen, Lungenkranke, Nieren- und Magenkranken und sonstigen bresten Menschen ist im Verhältnis zur Gesamtzahl eine erschreckend grosse, wobei noch zu bemerken ist, dass sich in Polen noch die unausbleiblichen Arbeitsunfälle und eventuelle Erfrierungen dazu gesellen. Trotzdem wir für alle aus irgend einem Grunde arbeitsunfähigen Menschen gerne bereit wären durch unserer Hände Arbeit für selbe in Hinkunft zu sorgen, müssen wir zu unserem Leidwesen feststellen, dass dies infolge der grossen Anzahl jener bedauernswerten Menschen unmöglich sein wird. Begrüssenswert ist es, mit welcher Aufopferung die hier sich befindenden gesunden Menschen ihrer mindertauglichen Glaubensgenossen annehmen. Dementgegen mussten wir aber beobachten, dass sich eine nicht ganz unberechtigte Stimmung gegen jene Persönlichkeiten richtet, welche für die Zusammenstellung der Polentransporte verantwortlich sind. Ununterbrochen vernehmen wir abfällige Aeusserungen und zwar darüber, wieso es möglich ist, eine Auslese an minderwertigem Menschenmaterial zusammen zu stellen, um selbe zu Aufbauarbeiten in Polen einzusetzen, dagegen eine Garde von jungen, kräftigen, daher arbeitsfähigen Menschen dazu verwendet, um mitzuhelfen, die gebrechlichen Leute nach Polen zu bringen. Die Beistellung der Ordner durch die Kultusgemeinde hat daher für die Polenaktion bisher keinen Nutzen gebracht, im Gegenteil hören wir des öfteren, man möge das Geld, das für den Ordnerdienst aufgebracht werden muss, dazu verwenden, um die vielen Frauen, die nur ein paar Halbschuhe besitzen, sowie keine warme Unterwäsche haben, entsprechend ausstatten zu können. Es hat sich bis heute trotz der verzweifelten Stimmung kein Fall ergeben, wo es notwendig gewesen wäre, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, einzugreifen. Die schwierigsten und verantwortlichsten Stellungen haben die Saalkommandanten- und kommandantinnen und wenn diese Stellen von Mitgliedern aus den eigenen Reihen besetzt wurden, so werden sich bestimmt unter der grossen Masse noch Leute finden, die dazu befähigt sind, die einlaufende Post aufzuteilen, nebensächliche Schreibarbeiten zu leisten, da die verantwortungsvollen Schreibarbeiten ohnedies von uns erledigt werden. Der Sanitätsdienst, der infolge des sich hier befindlichen minderwertigen Menschenmaterials ein besonders aufreibender ist, wird inklusive der Zahnbehandlung aus den Reihen der Polenfahrer in vorbildlicher Weise durchgeführt, wobei wir bemerken müssen, dass dem Arzt kein eigener Raum zur Verfügung steht, sondern die Behandlung und Untersuchung der Kranken in einem Schlafraum am Bette des Arztes mit den primitivsten Hilfsmitteln vorgenommen werden muss.
Wir wollen mit diesem Berichte keine wie immer gearteten Anschuldigungen der Kultusgemeinde gegenüber zum Ausdrucke bringen, weil wir uns dessen überzeugt sind, dass das Wohl und Wehe dieser Gruppe von Menschen der Kultusgemeinde nicht mindere Sorgen verursacht als uns selbst, aber als pflichtbewusste Menschen sind wir verpflichtet alles beizutragen, um die Not und das Elend aller unserer Glaubensgenossen nach Möglichkeit zu lindern.
Wir bitten Sie daher sehr geehrter Herr Amtsdirektor in erster Linie uns darüber Mitteilungen zu machen, was mit uns weiter geschehen wird. Wir wollen soweit dies Ihnen möglich ist, Klarheit darüber, ob wir nach Polen abtransportiert werden, oder nicht. Wenn ja, zu welchem Zeitpunkte. Sollte der Transport in absehbarer Zeit nicht durchgeführt werden, so ist es eine selbstverständliche Frage, wie lange wir noch hier bleiben müssen. Die meisten Leute unseres Transportes haben ihre Wohnungen liquidiert und sorgen sich Tag und Nacht, was geschehen wird, im Falle wir nach Hause gehen dürfen, da wir ja kein „nach Hause“ mehr besitzen. Wird der Transport doch durchgeführt, woher sollen wir uns Lebensmittel für die Dauer des Transportes verschaffen? Bei allen diesen für uns besonders wichtigen Fragen muss auch in Betracht gezogen werden, dass wir nicht so wie beim ersten und zweiten Polentransport eine Gruppe nur aus Männern bestehend sind, sondern viele Frauen und Kinder zu betreuen haben.
Wir sind uns dessen überzeugt, dass Sie, sehr geehrter Herr Amtsdirektor, unseren Bericht in einem für uns günstigen Sinne erledigen und genehmigen Sie den Ausdruck unserer vorzüglichsten
Hochachtung
für die Reiseleitung.
Zimmerkommandanten- und kommandantinnen